Wie das Wort "autistisch" den Autist*innen entrissen wird

Süddeutsche Zeitung vom 25.11.22 - "autistisch" als Schimpfwort?

Während Autist*innen darum kämpfen, sichtbarer zu werden und damit echte Teilhabe an unserer gemeinsamen Gesellschaft zu erreichen, gibt es immer noch Menschen, die das Wort "autistisch" als negativ belegte Eigenschaft benutzen.

2022 erscheint in der physischen Ausgabe der Süddeutschen ein Artikel, in dem der Autor folgenden Satz veröffentlichen darf: "Es gab, von den Neonazis einmal abgesehen, seit der Nachkriegszeit wohl keine Gruppe jüngerer Menschen, die so gefühlskalt, unmenschlich und autistisch dachte und handelte wie die Linksterroristen.“

Als ich durch die autistische Community den Link erhielt, dachte ich, es müsse sich um einen Fake handeln. Die von mir geschätzte SZ benutzt das Wort, dass mich definiert, in Verbindung mit gefühlskalt und unmenschlich? Da klären wir auf, reden, schreiben, teilen Links zu Studien und dann passt für einen Autor der SZ das Wort "autistisch" zu diesen beiden Worten?

Schon in einer Studie aus dem Jahr 2008 (!) stellte das Max-Plank-Institut fest, "Mitgefühl und Anteilnahme waren in der Autismus-Gruppe ebenso ausgeprägt wie in der Kontrollgruppe." (2) Und trotzdem werden uns auch 2022 grundlegende menschliche Gefühle abgesprochen und unsere Empfindungen als weniger wert angesehen. Wir kämpfen gegen Stereotype und Vorurteile an, die unser Selbstwertgefühl belasten und uns dezent aus der Gruppe der Mitfühlenden exkludieren. 

Und nun wirft der Autor der SZ das Wort "autistisch" in einen Topf mit "gefühlskalt" und erzeugt und verstärkt damit das Vorurteil, gegen das wir seit Jahren ankämpfen. Doch damit nicht genug, die Verbindung von autistisch und gefühlskalt wird vervollständigt durch das Wort "unmenschlich". Da passt das Wort "autistisch" hinein? Unmenschlich? Das ist die Gesamtmenge, in die man "autistisch" integrieren kann?

Doch alles wird getoppt von dem Hinweis, dass abgesehen von Nazis nur noch Linksterroristen so autistisch handeln. Mir wird kalt ums Herz, wenn ich so etwas lese. Menschen, autistische Menschen wurden von Nazis euthanasiert und 2022 verbindet ein Mensch das Wort autistisch mit dem Handeln von Nazis? Wie ist das möglich, dass jemand ein Wort, das mich definiert, mein neurologisches Setting beschreibt, in einem so negativen Kontext verwendet?

Es ist mir egal, ob jetzt wieder diese etymologischen Beschwichtigungen kommen, dass der Autor ja "irgendwie" das Wort auf Basis der griechischen Wörtern „autos“ (selbst) und „ismos“ (Zustand, Ort) benutzen wollte. Wer mit der Macht der Reichweite und Meinungsstärke der SZ das Wort "autistisch" in Verbindung mit Nazis, Terroristen, gefühlskalt und unmenschlich benutzt, der missbraucht dieses Wort, welches mich definiert, und tritt es in den Dreck. 

Wir sollten ein solches Verhalten hinterfragen und zwar im genauen Wortsinne. Was steckt hinter der Nutzung dieses Wortes in einem solchen Kontext? Welches Bild von Autismus muss ein Mensch haben, der 2022 das Wort "autistisch" den Autist*innen entreißt und es dermaßen verbindet?

Nun mag man sagen, er habe es ja so nicht gemeint und wir sollten weiter unsichtbar bleiben. Doch wer so argumentiert, hat nicht verstanden, in welch diskriminierender und unsichtbaren Welt immer noch viele Autist*innen leben. Zwei Drittel aller autistischen Schüler*innen in diesem Land werden gemobbt. Zwei Drittel! Kinder, die Angst haben, zur Schule zu gehen. Schüler*innen, die Tag für Tag erleben müssen, dass unsere gemeinsame Welt nicht für sie gemacht ist, die ständig zu hören bekommen, dass sie sich mal zusammenreißen sollen. 

Wir als autistische Erwachsene sollten nicht zulassen, dass ein Wort, das uns definiert in einem Kontext mit gefühlskalt und unmenschlich gestellt wird. Wir müssen sichtbar und deutlich Respekt einfordern, damit autistische Kinder endlich in einer Welt leben können, die ihnen von Geburt an zusteht. Einer Welt, in der sie gewertschätzt und respektiert werden. In der wir als autistische und allistische ("neurotypisch") Menschen auf Augenhöhe und mit Respekt agieren und gemeinsam daran arbeiten, dass diese Welt für uns alle lebbar ist.

Daher sollten wir alle unsere Worte mit Bedacht wählen! Danke!

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Krisenmanagement der SZ: Autismus - wie viel Eigenbrötlerei ist noch normal?

Nachdem die SZ uns mit einem fulminanten professionellen Krisenmanagement gezeigt hat, wie man es nicht machen soll, wenn Mensch ein Thema auf Augenhöhe diskutieren möchte, macht eine meiner Lieblingszeitungen weiter wie zuvor. Nämlich genau da, wo Herr Käppner aufgehört hatte (Text dazu siehe oben). Autismus - Wie viel Eigenbrötlerei ist noch normal? "...psychiatrische Störung.. wie viel Eigenbrötlerei ist noch normal? ...begehrte(n) Label"

In einer Zeit, in der zum ersten Mal, eine größere Anzahl an Autist*innen den Mut aufbringen, sich diagnostizieren zu lassen, sie über ein self-diclosing ("outing") nachzudenken, fällt der SZ nichts weiter ein als ein "...Menschen, die bei sich und anderen autistische Züge entdeckt haben wollen. Dazu mag auch die Präsenz von Autisten in Film und Fernsehen beitragen, wo Autisten häufig Superkräfte zugeschrieben werden..." Da kämpfen Menschen jahrelang mit sich, ob sie eine Diagnostik durchführen, genauer mit sich machen lassen wollen und dann schiebt die SZ diese Menschen in die Ecke von Träumerchen, die gerne Superkräfte hätten! Wo bleibt der Respekt vor dem Leid, dem diese Menschen ausgesetzt waren? 

Möchte mal ein SZ-Journalist den Weg der Diagnostik bestreiten und sich fremden Menschen gegenüber vorbehaltlos offenbaren? Jedes angefragte intime Detail seines Lebens, seiner Gefühle auf Anforderung mitteilen? Und sich dann, bei "erfolgreicher" Diagnose von seinen Mitmenschen diskriminieren lassen? Ich persönlich fände es z.B. hilfreich, wenn jeder Diagnostizierende sich selbst auf psychische Störungen überprüfen lassen müsste, einfach, um zu erleben, was es bedeutet, auf Zuruf alles preiszugeben.

Natürlich hat sich die SZ passende Hilfe bei Frau Michele Noterdaeme geholt. Warum auch die Ansichten von Autist*innen und modernen Forscher*innen kennenlernen wollen und damit seine bisherige defizitorientierte Sichtweise hinterfragen müssen? Doch statt mit der Psychiaterin über ihre Einstellung zu ABA diskutieren, wird von ihr das Thema Autismus als "Modekrankheit" besprochen! 

Für Menschen wie mich, die sich im Rahmen einer Diagnostik offenbaren mussten und nun mit einer S3-leitliniengerechten Diagnose dastehen, fühlt sich das wie Hohn an! Menschen, die nichts, aber auch nichts über Autismus wissen, maßen sich an, meine Diagnose zu hinterfragen und von mir Rechenschaft einzufordern. Warum? Weil Leitmedien wie die SZ in Zusammenarbeit mit Frau Noterdaeme dieses Pseudofachwort Modediagnose immer wieder replizieren. So glauben meine Mitmenschen, von mir verlangen zu dürfen, dass ich ihnen beweise, dass ich Autist bin, nur um mich dann zu diskriminieren. Schon fast zynisch oder?

Zumal grade jetzt die Diskussion um Autismusdiagnosen an Fahrt gewinnt (RW), darüber, dass Autist*innen massiv unterdiagnostiziert sind. Und ob der Goldstandard der Testmöglichkeiten, der ADOS für Autist*innen zur "Exkludierung" aus Forschungsprojekten führt. Und alles, was der SZ dazu einfällt, ist nichts, außer darauf hinzuweisen, dass es ein begehrtes Label geworden ist! Nur, um das mal zusammenzufassen:  erst schafft man Stereotype und dann beschwert man sich bei den Marginalisierten über die Stereotype, die man ihnen aufgedrückt hat?

Liebe SZ, ihr glaubt also, dass Autismus eine "psychiatrische Störung" ist, die jetzt begehrt ist, weil im TV so viele Autist*innen Superkräfte haben? Bisher dachte ich, dass ich schlicht und ergreifend ein anderes neurologisches Setting habe, was dazu führt, dass ich Dinge anders verarbeite und dass mir trotzdem der gleiche Respekt wie allen zusteht. Ich kann von Glück sagen, dass ich 2022 schreibe, vor ein paar Jahren hätte man mich ggf mit Elektroschock brav in die Position "therapiert", die mir scheinbar immer noch von einigen Gestrigen zugewiesen wird.

Journalisten haben Macht - Macht, die sie nutzen könnten, um (sich) aufzuklären und damit meinen Zugriff auf mir zustehende Rechte zu verbessern oder weiter am Narrativ des Defizit-Menschen zu arbeiten und mein Leben damit Tag für Tag zu erschweren

 

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Hier meine Email an die SZ:

SSehr geehrte Damen und Herren, 

Ihr Agieren auf die Beschwerden (Artikel von Herrn Käppner) zeigt leider, wie reichweitenstarke Journalist*innen der SZ unsere Meinungen "wertschätzen und "anerkennen", nämlich als "Betroffene", die nicht auf Augenhöhe sind. Kein sichtbares Eingehen auf Beschwerden.

Stattdessen startet das professionelle Krisenmanagements der SZ, indem das Wort "autistisch" entfernt und geschickt verschwiegen wird, was genau veröffentlicht war. Der Hinweis der Reaktion (Zusammenhang mit Linksterrorismus), ist nur ein Teilstück dessen, was Herr Käppner tatsächlich geschrieben hat. Der Zusammenhang war "unmenschlich", "gefühlskalt" und Neonazis würden autistisch handeln! 

Im zweiten Schritt plant die SZ eine Online-Veranstaltung über Autismus. Doch schon im Artikel hierzu zeigt sich der gleiche Nährboden an Vorurteilen und Stereotypen. Bereits Ihre Überschrift ist ein Eyeopener für jeden, der sich über Ableism informieren will: "Autismus - wie viel Eigenbrötlerei ist noch normal?" Was lernen wir aus diesen wenigen Zeilen zum Standpunkt der SZ? 

Es gibt ein "noch normal" an Eigenbrötlerei, grade noch tolerierbar. Wenn es "unnormal" wird, ist es Autismus! Ernsthaft? Und dann stellt die SZ erstaunt fest, dass autistisch als Schimpfwort benutzt wird? Es ist die SZ, die den Nährboden dafür vorbereitet, indem sie uns im gleichen Atemzug mit unmenschlich und Neonazis benennt! Sind Sie wirklich erstaunt über die Wirkung Ihres eigenen Framings? 

Sie schreiben: "..fordern manche selbst immer vehementer ein, nicht als krank klassifiziert zu werden. Sie hätten nun einmal besondere Eigenschaften, aber behandlungsbedürftig seien diese nicht unbedingt.." "Besondere Eigenschaften" haben wir?

Zu allererst haben wir Menschenwürde und -rechte, liebe SZ. Dazu gehört, dass Sie aufhören, uns mit einem herabwürdigenden und exkludierenden Framing zu beschädigen, zu limitieren und zu verkindlichen. Wir stehen mit Ihnen auf Augenhöhe und wenn sie auch nur ansatzweise Journalismus ernst nehmen, dann gehen Sie auf Beschwerden ein und verstecken sich nicht hinter Aussagen von "Wissenschaft", die grade dabei sind abgelöst zu werden:

Autism Treatment shifts away from "Fixing" the Condition: “We’ve moved away from thinking of autism as a condition that needs to be eliminated or fixed to thinking about autism as part of the neurodiversity that exists across humankind,” says Geraldine Dawson, director of the Duke Center for Autism and Brain Development in Durham, N.C. “ 

https://www.scientificamerican.com/article/autism-treatment-shifts-away-from-fixing-the-condition/

Ich entlasse Sie nicht aus Ihrer Verantwortung für Ihre Worte und Taten - solange Sie mein Leben durch Ihre Artikel limitieren, mein neurologisches Setting als krank, als psychiatrisch gestört bezeichnen und meine Eigenbezeichnung in den Kontext von "unmenschlich", "Neonazis", "gefühlskalt" verschieben, tragen Sie Mitverantwortung für meine Diskriminierung! Sie können sich nicht hinter einer Online-Veranstaltung verstecken, denn Sie gehören zu den Menschen, die mein Leben erschweren, ohne mir die Chance zu geben, gehört zu werden:

Stellen Sie sich Ihrer Verantwortung - als Menschen und als Journalist*innen! Antworten sie mir auf Augenhöhe. Dazu hätte gehört, dass Sie Frau Noterdaeme zu ihrer Einstellung zu ABA befragt und Autist*innen zu Ihrer Online-Veranstaltung eingeladen hätten, denn #NothingAboutUsWithoutUs #RepresentationMatters 

Mit freundlichen Grüßen

Shino

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(1) Twitter von Tobias Lill vom 26.11.22

(2) Empathy in Adults with Autism Spectrum Conditions: