Sichtweisen ändern 

Wie Misskonzeptionen unseren Alltag beeinflussen

Erst durch das Offenlegen, dass ich Autist bin, wurde mir der Impact klar, den dieses Outing haben kann. Für meinem Freundeskreis hatte das Wort keine Bedeutung. Es gab einfach einen Namen, der erklärte, warum ich manches bevorzugte und mir anderes unangenehm war. Genauso sollte es doch sein.

Sollte die Info "Ich bin Autist" nicht im ersten Schritt genauso nebensächlich sein, wie "Ich bin Rechts- oder Linkshänder!"? Aufgrund neurologischer Gegebenheiten bevorzuge ich mit rechts/links zu greifen. Aufgrund neurologischer Gegebenheiten kann ich sehr viele Reize bewusst wahrnehmen und be/erarbeite diese dann ebenfalls bewusst - kognitiv. Daher passe ich die Anzahl der Reize durch mein Verhalten/Routinen/Umgebung/Hobbies an, um mich nicht zu überlasten. "Aus die Maus!"

Es stellte sich schnell raus, dass die Realität zum Teil anderes war. Warum änderten einige Menschen, die mir nicht nahe standen, ihr Verhalten, wenn sie hörten, dass ich Autist bin? Was verunsicherte sie? Wieso trauten sie mir weniger zu als vorher? Vieles davon ist sicherlich Unerfahrenheit, die auch dadurch entsteht, dass wir als in sich diverse Gruppe so unsichtbar sind.  

Unerfahrenheit?

Also, Unerfahrenheit oder war da noch mehr? Ein schneller Blick auf Google oder whatever erklärte vieles. Autisten! Wie viele gab es? Ganz wenige? Nur Männer? Wenn Frau, dann burschikos? Häufig geistig eingeschränkt? Gestört? Oh, ASD heißt ja Disorder, ASS Störung. Meltdown, Shutdown, Komorbiditäten, Wutanfälle, Ängste....können nicht......fehlt.... haben Probleme mit....

Ich bekam eine Liste an Dingen zu lesen, zu denen ich ab sofort nicht mehr fähig zu sein schien. Hm, einen Teil der gelisteten Dinge konnte ich ersichtlich, dann ich war jahrelang Vollzeit berufstätig gewesen, hatte mit 18 bereits einen eigenen Haushalt, lebte unabhängig und meine IQ-Werte waren auch eher über- als unterdurchschnittlich. Anderes passte perfekt zu mir.

Viele Seiten erschufen ein Bild von einem abhängigen, seltsamen Wesen, welches getrieben von Reizen durch sein/ihr Leben torkelt und nur durch zwanghafte Routinen Glück erlebt. Ich sah ein Wesen vor mir, dass leidet - an sich selbst und an seiner Umwelt. Highlight war eine Werbung für ein Seminar: "Autismus - nicht Herr seiner Sinne sein!" 

Und dann gab es da noch den seltenen sagenumwobenen Asperger, sozusagen der knallblaue Hyazinth-Ara der IT-Szene - nur ohne deren Geselligkeit! Versteckt im Computer Rain Forest flog der Vogel unbeirrt von PC zu PC, knabberte Bits, spuckte komische Algorithmen aus und zwitscherte seine seltsamen 0101-Lieder. Er verstand unglaublich schnell komplexe IT Probleme, war aber unfähig, seine eigenen Gefühle zu benennen. Geschweige denn verstehen zu _wollen_ was andere empfanden. Und wenn der "er" eine "sie" war, dann.... ja... dann. 

Ja, was dann? Was, wenn dieser Asperger ich war? Kein seltener Hyazinth-Ara, sondern einfach nur ich, ein Mensch, irgendein Mensch und ein Autist?

Wo bin ich unter all den Bildern?

Also, fing ich an, Studien zu lesen. Diese neuen Studien bildeten mich viel mehr ab. Ich las und fing an, vieles wiederzuerkennen. Doch je mehr ich las, je mehr sah ich eine Diskrepanz zwischen dem Bild, welches die ersten Hits im Internet ergaben und dem, was ernsthafte Forscher*innen so zusammentrugen. So viele hochfunktionale Autisten und jede Menge Frauen?

Und doch gab es auch da immer wieder diesen "unangenehmen Geschmack" (RW) von Disorder, Störung, Krankheit, funktionslosen Verhalten, zwanghaften Routinen, Reizempfindlichkeit und der scharfen Einteilung von autistischen Patienten und gesunder Kontrollgruppe.... Einmal schrieb eine angehende Psychologin, Menschen wie ich sollten doch froh sein, dass Menschen wie sie sich für uns engagieren... In einer Studie war ich statt Proband (Teilnehmer einer Studie) auf einmal Patient (der behandelt wird, lat. für leidend). Seltsam, seltsam. 

Forschung - ein Aufbruch?

Und gleichzeitig traf ich bei Studien, an denen ich teilnahm, viele kluge, sich selbst hinterfragende junge Psycholog*innen, die engagiert forschten und Bestehendes in Frage stellten. Wo kamen die denn auf einmal her? Es gab in der Wissenschaft Diskussionen über die Art und Weise, wie Autist*innen bezeichnet werden sollten? Da wurde über Framing diskutiert? Statt Autism Spectrum Disorder - ASC für Autism Spectrum Condition? Es gab Guidelines, die das enthielten, was mir wichtig war? Warum wusste das scheinbar kaum jemand, warum las ich erst jetzt davon?

Wo ist all dieses Wissen im Alltag? Da muss ich mir von einer Sachbearbeiterin sagen lassen, dass Menschen wie ich besser in einem geschützten Rahmen aufgehoben sind, nachdem ich mit 18 Jahren ausgezogen war, studiert hatte, arbeite, unabhängig lebe? Wie oft fragen mich Freunde nach meinem Rat. Dann gibt mir jemand ein Label und will über mein Leben bestimmen? Jemand, der nichts über "meinen" Autismus weiß, erklärt mir meine Zukunft? Ich sage mal höflich, sicher nett gedacht, dass Sie helfen wollen. Aber es reicht, wenn Sie mich nicht exkludieren, alles andere kriege ich selbst hin. Wenn ich einen Rat brauche, dann wähle ich den Ratgeber aus.

Nun lese ich in der modernen Fachliteratur von neuem Wissen. Höre kluge Autist*innen zu, was die über sich selbst wissen und was sie gerne vermitteln wollen - nur, es findet keine wirkliche Verbreitung. Das muss sich ändern: Spread the information.