Folgen Sie mir in meine Welt....

1. Frage: "Können "die" sich nicht zusammenreißen? Mir macht "das" doch auch nichts aus!"

Immer wieder kommt der Satz: Können die sich nicht zusammenreißen? Mir macht das doch auch nichts aus! 

Und genau dieser Satz, dieses Empfinden: "Mir macht "das" doch auch nichts aus!" ist von großer Bedeutung, um Autismus zu verstehen. Wann immer Sie denken, "das" macht mir doch auch nichts aus, vergessen Sie, dass dieses ominöse "das" für uns nicht das gleiche ist. 

Daher folgen Sie mir in einem Gedankenexperiment, um Ihnen die Unterschiede auf etwas ungewöhnliche Weise nahe zu bringen! 

Mir ist bewusst, dass ich hier viel von Ihnen verlange, aber bitte versuchen Sie es. Am Ende werden Sie Reizüberlastung vielleicht ein wenig nachempfinden können. Folgen Sie meinen Worten, konzentrieren Sie sich darauf, was diese Vorstellung in Ihrem Körper auslöst. Ich möchte, dass Sie verstehen, wie es ist, den Reizen ungeschützt ausgesetzt zu sein und darum nehme ich Sie mit zu einem: 

Gedankenexperiment:

Stellen Sie sich vor, dass Sie mittags das Haus verlassen wollen, die Sonne scheint und Sie möchten Ihr Ziel erreichen. Die Arbeit, den Supermarkt, einen Wald zum Spazierengehen. Egal. Ein Ziel, Ihr Ziel. 

Sie gehen Richtung Bürgersteig und spüren, wie heiß der Boden ist. Der Asphalt glüht in der Sonne. Sie müssen "nur" diese Straße überqueren, um ans Ziel zu kommen. Sie schauen nach links. Dort steht Ihr Nachbar, auch er will die Straße überqueren, jeder für sich auf derselben Straße.  

Doch Sie können keine Schuhe tragen, trotz des heißen Asphalts. Es ist Ihnen nicht möglich, sich so zu schützen. Ihr Nachbar dagegen trägt bequeme Schuhe, ihm ist nicht einmal klar, dass er diesen Schutz hat. Den Schwung, den er beim Verlassen des Hauses hatte, behält er bei, während er über die Straße geht. Keinen Gedanken verschwendet er an die Hitze. In Gedanken ist er schon fast am Ziel. Sie sehen, wie er unbeirrt und unbekümmert die Straße überquert und Ihnen kurz zulächelt.

Sie stehen da, wissen, dass Ihre Füße ungeschützt sind und sie erinnern sich an den Schmerz, den die Hitze unter Ihren Füßen bereits ausgelöst hatte. Nicht das erste Mal, dass sie dies fühlen. Der Nachbar schaut zurück und muntert sie auf. "Komm, ist doch nichts dabei. Einfach rübergehen, habe ich doch auch gemacht."

Sie möchten ans Ziel kommen, wie die anderen. Doch das heißt, diese Straße zu überqueren, ungeschützt. Sie setzen ihren nackten Fuß vorsichtig und langsam auf diesen kochenden Asphalt. Es fühlt sich an, als ob der Boden glüht. Diese unglaubliche Energie, diese Hitze überträgt sich auf Ihre Fußsohle. Alles in Ihrem Körper spannt sich an. Es ist kaum auszuhalten und sie stehen noch nicht einmal richtig auf der Straße. Es ist Ihnen kaum möglich, den Fuß vollständig auf der Straße abzusetzen, geschweige, ihn zu belasten. Jetzt das Gewicht auf diesen Fuß verlagern. Jemand ruft: "Reiß dich zusammen, mir macht das doch auch nichts!" 

Aber ihr Körper schreit, sie sollen den Fuß wieder hoch heben, zurückgehen. Alles in Ihnen will nur weg von diesem Schmerz. Sie müssen sich überwinden. Sie hören sich sagen, ist nur eine kleine Straße und dann bist du fast am Ziel. Du schaffst das. Sie atmen durch und lassen den Fuß nicht nur auf dem Asphalt, sondern sie versuchen, ihr Gewicht daauf zu verlagern. Nur ein Schritte, dann ist es geschafft!

Ihr Nachbarn ruft von der anderen Straßenseite: "Stell dich nicht so an, beeil dich. Mir macht das ja auch nichts aus!". Sie möchten zurückschreien, du weißt doch gar nicht, wie sich das für mich anfühlt! Mit Schuhen ist es was anderes. Aber er schüttelt nur den Kopf, weil sie sich so anstellen und geht. 

Weitergehen. Schritt für Schritt. Atmen. Konzentrier dich. Versuche, den Schmerz zu ignorieren, egal wie laut dein Körper schreit. Schritt für Schritt. "Kannst du nicht mal lächeln?" ruft jemand. "Was stellt die sich an. Soll sich mal zusammenreißen." "Was sollen denn die Leute denken, wenn du dich so anstellst!" "Mir macht das doch auch nichts aus." Sie kämpfen sich Schritt für Schritt weiter durch den Schmerz. Jetzt noch lächeln? Fast geschafft, sie sind fast da. Sie springen die letzten Schritte, rennen, um den Schmerz zu entrinnen. "Was mir der denn los?" 

Sie haben es geschafft. Sie sind drüben. Die Fußsohlen schmerzen, aber sie haben es geschafft. Möchten sich freuen, dass Sie sich selbst überwunden haben, dem Schmerz gestellt. Niemand versteht, was sie haben. Geht man halt rüber, wo ist das Problem? Niemand sieht, wie anstrengend das war. Dass Sie jetzt Ruhe brauchen, um sich zu erholen. "Mach mal Platz!" "Du stehst im Weg!" "Das ja lächerlich, wovon willst du dich erholen? Ich bin heute fünfmal über die Straße und du jammerst!" "Als ob es an den Schuhen liegt, du jammerst einfach zu viel!"  

Sie atmen durch, stecken jeden dieser Sprüche ein und gehen weiter. Ihre Füße schmerzen immer noch, aber sie gehen weiter zum Ziel. Merken Sie, wie sich Ihr Körper verkrampft? Gleich sind sie am Ziel, aber sie sind müde. Und dann müssen Sie wieder zurück. Ungeschützt dem Schmerz ausgesetzt und dem Unverständnis. "Reiß dich mal zusammen!" 

Als Sie heim kommen, versuchen Sie Ruhe zu finden. Dem Schmerz zu entkommen. Und am nächsten Tag werden Sie wieder diesen Weg gehen, ungeschützt. Doch irgendwann ist ihre Haut an den Füßen zu schwach, zu oft der Hitze ausgesetzt gewesen. Sie versuchen, nur noch selten diesen Weg zu gehen, aber Sie können die Verwundungen irgenwann nicht mehr ausgleichen, je öfter Sie den Weg gehen, je günner wird Ihre Haut, je stärker werden die Verletzungen, je länger brauchen Sie zur Erholung. "Reiß dich zusammen, mir macht das doch auch nichts aus!"

Wenn Ihnen ein/e Autist*in  das nächste mal sagt, dass ihm Reize zu viel sind, er/sie sich zurückziehen muss. Dann denken Sie daran: Dieser Mensch hat weitaus mehr ausgehalten, als Sie verstehen können. Sie können nicht mal erahnen, welche Menge an Reizen er/sie ausgesetzt war. .

Beurteilen Sie nicht nach dem, was Sie empfinden. Überlegen Sie, was der/die andere Person empfindet. 

Leider fiel mir kein besseres Bildnis ein und sicherlich könnten Sie nun sagen, soll der/die doch Schuhe anziehen *s* darum geht es nur nicht. Was sie verstehen sollten, ist, dass Sie nicht Ihre Leistung bei der Verarbeitung von Reizen mit der Leistung von Menschen vergleichen sollten, die viel mehr Informationen/Reize aufnehmen und verarbeiten müssen. 

Meine Welt ist so viel intensiver, ich verarbeite bedeutend mehr Reize/Informationen bewusst. Ich nehme vieles ungeschützt wahr und muss dann Entscheidungen treffen, was wichtig ist. Das alles löst Bewegung in mir aus. Diese Bewegung muss ich verarbeiten.